Nichts für normale Menschen
Wie will man jemandem das erklären? Dass man sich das Hirn zermartern kann mit der Frage, ob Elvis Presley unter „E“ oder „P“ im Regal stehen soll. Dass man 280 Euro für eine zerkratzte Vinylplatte hinblättert, auf der nichts anderes zu hören ist als auf einer CD für 14,95 Euro. Dass man den lieben Gott anfleht, er möge einem den Weg zu einer ganz bestimmten Erstpressung weisen – obwohl man die Aufnahme bereits zigmal in der Sammlung hat.
Der Durchschnittsmensch, so Jürgen Schmich in der Einleitung seines Buches „Plattensüchtig“, werde dafür nicht mehr als ein Achselzucken übrig haben, ein miteidiges Lächeln vielleicht. Er hat schließlich per Streaming Zugang zu Abermillionen von Musiktiteln und ist damit zufrieden. Erstpressung – was ist das?
Zu Beginn jeder Sammlergeschichte sei von Verrücktheit noch nichts zu spüren: „Am Anfang steht die erste eigene Platte. Vom Taschengeld gekauft, vom großen Bruder geerbt, von Mama zum Geburtstag geschenkt. Musik aus den 80ern, 70ern, 60ern – aus jenen Jahrzehnten, in denen die meisten dieser Geschichten beginnen. In denen man mit 110 Watt aus seiner Stereoanlage mehr protzen konnte als mit den 110 PS eines Golf GTI vor der Disco. In denen Musik in schwarzes Vinyl gepresst und noch nicht in Einsen und Nullen zerlegt aus dem Internet heruntergeladen wurde.“
Die erste Schallplatte vergäßen die wenigsten: Sie gehöre zu den Teenagerjahren wie der erste vorsichtige Kuss, die erste heimliche Zigarette, der erste Kater. Es könne eine Scheibe sein, an die man sich Jahrzehnte später noch erinnert. „Meine Erste? – Blitzkrieg Bop von den Ramones, ich war mit zwölf schon Punk.“ Oder für die man sich schon vier Wochen später schämte. „Meine Erste? Irgendwas von den Bay City Rollers, weiß nicht mehr so genau, habe sie verschenkt.“
Zu ersten Schallplatte kämen dann die nächsten. Irgenwann seien es 10, 50, 100 – eine harmlose Ansammlung von Musik. Doch manchen reiche das nicht:
„Das sind Typen, die nicht nur am Erscheinungstag die neueste LP einer obskuren französischen Psychedelic-Band auf dem Plattenteller haben, sondern auch die im Cover versteckten Botschaften kennen. Die unter der Schulbank Songtexte übersetzen, auf Konzerten in der ersten Reihe stehen, sich auf der Gitarre die Finger blutig üben und alle mit Verachtung strafen, die keine wandelnden Rocklexika sind. Sie sind absolut besessen von Musik – und auf dem besten Weg, Sammler zu werden.“
Was jemanden zum Plattensüchtigen mache, habe mit Musik erst mal nichts zu tun:
„Es beginnt damit, dass man seine Schallplatten nicht irgendwie im Regal stehen haben will. Sondern dass man nachdenkt – lange, lange darüber nachdenkt, ob es richtig sei, sie von A bis Z zu ordnen – oder besser nach Musikstilen? Man erträgt es auf einmal nicht mehr, seine Schätze ohne Schutzhüllen aufzubewahren. Man rastet aus, wenn die Freundin einen Fingerabdruck auf dem Vinyl hinterlässt.“
Das Sammler-Gen, so Schmich, zeige jetzt Wirkung: „Sammelgebiete werden definiert, Suchlisten erstellt, die Zeit des wahllosen Kaufens ist vorbei.“
So war das auch bei mir: Obwohl ich schon eine Rock ’n‘ Roll-Sammlung nach einigen Metern besaß, aber von Hank Ballard keine einzige LP, von The Cousins nicht die Ten Inch auf dem belgischen Palette Label, musste ich mir die Scheiben besorgen. Weil sie einfach in eine Schallplattensammlung der späten Fünfziger und der frühen Sechziger gehören.
Auch wie die Musik gefällt, interessiert erst mal nicht. Paul Anka hat eine Reihe guter Pop-Scheiben gemacht, danach aber als Crooner, der den Erwachsenen gefallen wollte, im Smoking langweilige Show-LPs in amerikanischen Nachtclubs aufgenommen. Mir ist der Besitz selbst solcher Veröffentlichungen wichtig, weil sie im Goldmine Priceguide gelistet – damit relevant – sind und eine Sammlung von Ankas Original-LPs auf ABC Paramount und RCA Victor erst vollständig machen.
Einer seltenen LP nachzujagen – nicht sie zu finden – ist das eigentliche Vergnügen von Schallplatten-Sammlern
„Während andere Leute Regale voll mit Platten sehen, sieht der Sammler nur Lücken“, beobachtet Schmich. „Mit jeder Platte, die er von der Suchliste streicht, tun sich neue Verästelungen im vinylen Universum auf – es kommen drei neue hinzu.“
„Wie viele Platten willst Du Dir denn noch zulegen?“ fragen mich selbst Freunde, die es gut mit mir meinen. „Die kannst Du doch gar nicht alle hören.“ Meine Antwort: Es beruhigt mich, dass sie da sind. Dass ich sie hören könnte, wenn ich wollte. – Ein zentraler Satz, der gleichermaßen für meine HiFi-Klassiker gilt.
Hier suche ich gerade eine LP aus meiner Sammlung mit Surf-Musik für die abendliche Plattensession aus. Dass diese Richtung nicht nur aus weinerlichen Falsettgesängen der Beach Boys um verflossene Strandlieben besteht, habe ich erst in den späten 1970er Jahren erfahren
Dass dem Sammler meist Desinteresse entgegenschlägt, nehme dieser in Kauf. Zum Problem könne das nur werden in einer Beziehung. Ein weibliches Wesen, das diesen Wahnsinn toleriert, sei nicht leicht zu finden.
Lasse sich eine Frau auf einen Plattensüchtigen aber ein, müsse sie Einiges ertragen: „Du kannst Deine CDs hinstellen wo Du willst, aber nicht in mein Plattenregal.“ „Wir haben kein Platz für ein neues Sofa, wir haben ja kaum Platz für die neuen Lautsprecherboxen.“ „Tut mir leid, Schatz, an dem Tag können wir nicht heiraten, da ist Plattenbörse.“
Als ich 1974 mit meiner späteren Frau Angelika zusammenzog, war ich vom Plattensammeln bereits heftig infiziert. Die Düsseldorferin wusste also, auf was sie sich bei mir einlässt – und hat mich bis heute gewähren lassen. Das Foto mit meinem Plattenfreund Lothar Mackenbach entstand Anfang der 1980er Jahre in Solingen. In den Regalen seine Singles-Sammlung mit Aufnahmen von Schmalzlockensänger Bill Haley
Das Verkehrteste ist, seine Partnerin mit in einen Plattenladen zu nehmen. Die langweilt sich da zu Tode. Genauso wie der Plattensammler, der als Begleitung zum Einkaufen mit in die Stadt muss – obwohl er selber dort gar nichts braucht. Der sich in Modeläden die Füße krumm und schief steht, während die Freundin oder Frau interessiert von Kleiderständer zu Kleiderständer wandert.
Eine Frau, die nach Art der Süchtigen Schallplatten sammelt, konnte Jürgen Schmich bei seinen Recherchen nicht ausmachen. Interessentinnen für das „schwarze Gold“ sind auch auf Börsen eine deutliche Minderheit
Doch die Partnerin hat auch einen bedeutenden Vorteil: Konzentriertes Musikhören und die Pflege einer großen Schallplattensammlung ist nicht nur ein eher ungewöhnliches, sondern auch ein ausgesprochen häusliches Hobby. Das männliche Gegenstück ist eigentlich immer da – ein Zustand, den manche Frau gern hätte.
Frauen von Durchschnittsmännern, die viel außer Haus sind, die zum Verein oder zum Stammtisch gehen und mit Kegelbrüdern an die Mosel fahren, bei denen sich alles um Bier, Fußball und dicke Autos dreht, können davon nur träumen. Wenn Deutschland bei der Weltmeisterschaft im Endspiel steht und die halbe Nation vor der Mattscheibe fiebert, lässt mich das unberührt – auch in dieser Schicksalsstunde findet man mich in meinem Plattenkeller.
Außerdem: Das Sammeln und Hören von Schallplatten ist ein aktives Hobby – mein Fernsehkonsum geht gegen Null. Oft überlege ich an meinen Regalreihen lang – sehr lang, nach welcher Musik mir heute der Sinn steht. Ich bin da mein eigener Programmgestalter. Anders der durchschnittliche Konsument, der vor seinem Flatscreen im Riesenformat sitzt, der sich was vorsetzen lässt, der durch die Programme zappt und nach einer Fernsehshow, die Anschauen mal wieder nicht gelohnt hat, frustriert zu Bett geht.
Der zufriedene Blick sagt mehr als tausend Worte: Genau dieses Ten-Inch-Acetat hatte der erfahrene Sammler seit vielen Jahren gesucht
Keine Ahnung, kein Interesse …
Man sollte nun meinen, dass Plattensüchtige, denen jeder Krümel des Hobbys wichtig ist, ihre kostbaren Scheiben auf möglichst hochwertigen Musikanlagen abspielen, um sie klanglich bestmöglich zu genießen. Doch die Chance, dass das schwarze Gold auf einen Thorens TD 124, Garrard 401 oder gar auf einen neuzeitlichen Transrotor kommt, ist gleich null. Lediglich einer der von Schmich aufgesuchten Sammler benutzt einen EMT 930 – und der verdient mit Schallplatten beruflich sein Geld.
Mit der Kombination von Rock ’n‘ Roll und HiFi-Klassikern bin ich da Einzelgänger. Mancher Plattensüchtige spielt sein Vinyl gar auf einer einfachen Kompaktanlage und käme nie auf die Idee, dafür mehr als vielleicht drei- oder vierhundert Euro inklusive Lautsprecher auszugeben.
Schallplatten nach Tausenden – aber nur eine bescheidene Musikanlage: Für die Wiedergabe seiner Vinylschätze reicht Rock ’n‘ Roll-Sammler Heinz-Günther Hartig ein Lenco an einem älteren Mittelklasse-Receiver
„Warum treiben diese Sammler einen irrsinnigen Aufwand mit ihren Scheiben und hören sie dann auf derart kümmerlichen Anlagen?“ fragt sich Thomas Wöll, der das Buch von Schmich für das Mitgliedermagazin der Analogue Audio Association (AAA) besprochen hat. „Für einen originalen Longplayer mit Deep Groove, für zweieinhalb Kratzerchen weniger auf der Spielfläche zahlen sie ohne mit der Wimper zu zucken 100 Euro mehr“, wundert sich der Rezensent. „Für den Tonabnehmer dagegen sind kaum 50 Euro drin, für’s Justieren keine Zeit, keine Ahnung, kein Interesse.“
Sein Vinyl reinigt Heinz-Günther Hartig mit einer Bürste im Waschbecken und spielt die Schallplatten danach nass ab, „damit der Diamant den verbleibenden Schmutz aus der Rille löst“. Highend-Freunde, die einen Plattenspieler mit vier- oder fünfstelligem Preisschild betreiben und eine hochwertige Waschmaschine benutzen, aber lediglich 300 audiophile LPs im Schrank haben, greifen sich da an den Kopf.
Ungläubige Blicke: Dass man LPs vor dem Abspielen auf einer Profimaschine wäscht und danach absaugt, scheint vielen Plattensammlern übertrieben. Vorgeführt wird die Keith Monks hier von Klaus Röder, AAA – den nichts mehr ärgert als digitales Mastering für eine analoge LP
Und eine gute Nachpressung, etwa von MFSL aus den USA, die von den originalen Bändern remastered wurde? „Das ist nichts für diese Sammler“, klagt Wöll. „Uninteressant.“ Wobei das AAA-Mitglied hier die Gedankengänge von Plattensüchtigen nicht versteht: Sammler wollen das Original einer bestimmten Zeit – der Zeit, in der sie mit Musik aufgewachsen sind.
Ihnen geht es darum, diese Jugendjahre zurückzuholen. Das funktioniert nicht mit Wiederveröffentlichungen, modern gestalteten Labels und Barcodes auf den Covern – mögen die Aufnahmen klanglich noch so hochwertig sein. Solchen Surrogaten wohnt nicht die Kraft inne, den Besitzer in die alten Zeiten zu versetzen.
Bei mir geht die Denke noch weiter: Schallplatten einer bestimmten Zeit sollten idealerweise auf hochwertigen Plattenspielern der gleichen Ära gehört werden – was bei meiner Sammlung die Verwendung eines Reibradmodells von Thorens oder Garrard bedeutet. Ein befreundeter Sammler mit ähnlichen Interessen benutzt für’s Musikhören zwei Technics SL-1210. Dass diese Diskothekenmodelle aus den 1980er Jahren zu seinem Vinyl aus den Fünfzigern und frühen Sechzigern schwerlich passen sollen, versteht er nicht.
Glück und Wahnsinn …
Für sein im Eigenverlag erschienenes Buch (die erste Auflage 2011, ein weitere 2013), interviewte Jürgen Schmich mehrere Schallplattensammler – und reiste dafür quer durch Deutschland, nach Österreich und in die Schweiz. Alle sind Liebhaber des „schwarzen Goldes“, die sich auf bestimmte Gebiete spezialisiert haben: der eine auf 78er Schellacks – und bei diesem Format auf europäischen Jazz, der andere sammelt nur Beatles, der nächste Bildschallplatten. So viele Genres, Formate, Labels und andere Ordnungskategorien denkbar sind, so viele Sammelgebiete gibt es auch.
In den von Jürgen Schmich geführten Interviews erzählen seine Gesprächspartner vom Glück und Wahnsinn ihrer Sammelleidenschaften. Alle sind sie vom gleichen Virus infiziert, sind hochgradig plattensüchtig. Eindrücke von den Sammlerpersönlichkeiten vermittelt ein Schnelldurchlauf durch die jeweilige Sammlung mit stets gleichen Fragen: Die erste selbst gekaufte Platte? Die wertvollste? Die rarste? Die peinlichste? Der beste Fund? Lieblingscover?
Ordnung per Trittleiter: In den USA gibt es noch ganz andere Kaliber von Plattensüchtigen – wie dieser, der in einem eigens angemieteten Lagerhaus seine LPs sortiert
Schlüsselerlebnis in London
Vinyl und aktuelle Musik habe ihn nie interessiert, erklärt Andreas Schmauder – leidenschaftlicher Sammler und renommierter Händler von Schellackplatten. Bei seinem Studium der Ur- und Frühgeschichte in Freiburg merkte der 1963 Geborene bald, dass er lieber auf Flohmärkten als auf Ausgrabungen unterwegs war. Die angefangene Dissertation führte er nicht zu Ende. Ab Mitte der 1990er Jahre entwickelte er die Idee, seine Liebe zu Schellacks zum Beruf zu machen.
„Die Klangdynamik einer 78er ist unschlagbar“, sagt Schmauder. Eine Wiederveröffentlichung auf LP oder CD käme vom Sound her nie an die originale Schellack-Aufnahme heran
Schon bei seinen Eltern hörte Schmauder „eher die alten Sachen“. Zu den Schellacks kam er mit dreiundzwanzig, als er in London ein Standgrammophon kaufte und dazu noch 30 Schellacks mitnehmen durfte. Allerdings „unbedeutende Scheiben, die ich heute nicht mehr mit der Beißzange anfassen würde“.
In den ersten Jahren neigte der Freiburger eher dazu, eine Grammophonsammlung aufzubauen. „Aber bei den Platten gab’s so viele spannende Geschichten, dass ich von der Hardware zur Software gewechselt bin.“ Zuerst kaufte Schmauder in England 78er in Trödelläden für zehn Pennies pro Platte. Dann kam er in ein Spezialgeschäft, in dem die Platten zwar teurer waren, ihm aber auch besser gefielen. „Da bin ich dann intensiv in die Sache eingestiegen.“
Nachdem Schmauder 50 oder 100 Platten besaß, fing er an Listen zu schreiben und den Bestand zu ordnen. Er bekam Kontakt mit anderen Sammlern und einem Schellackplatten-Club, schrieb seine ersten Verkaufslisten. Schließlich wuchs ihm die Idee, man könne vom Plattenhandel leben, wenn man ihn intensiv betreibt.
Schmauder eröffnete in der Nähe von Freiburg unter dem Namen Phonopassion eines der mittlerweile wichtigsten Schellackplatten-Antiquariate Europas:
https://www.phonopassion.de/index.php?key=hauptseite_de
Der „harte Kern“ seiner privaten Sammlung von etwa 40000 Schellacks ist ein Archiv des europäischen Jazz der Zeit vor 1935, das rund 7000 Platten umfasst.
Shapes und Picture Discs
„Die 5000 normalen schwarzen Vinylplatten in seiner Sammlung erwähnt Peter Bastine nur am Rande“, schreibt Jürgen Schmich im Vorspann zum nächsten Sammlerportrait. Bastines Leidenschaft gilt Scheiben, bei denen das Aussehen wichtiger ist als die Musik: Gemeint sind Picture Discs, zu Deutsch Bildschallplatten.
Picture Discs sind Vinylschallplatten mit einem Bild auf der gesamten Spielfläche, meist auf beiden Seiten. Hier ein Beispiel von Rock ’n‘ Roll-Sänger Jack Scott, erschienen auf dem Hamburger DEE JAY Label
Zweites Sammelgebiet von Bastine sind Shapes – das sind Schallplatten mit geschnittenen Rändern in den verschiedensten Formen. Als Material für Pictures Discs und Shapes dienen Vinyl, Schellack, Kunststoff, Pappe, Zement, Glas und sogar Metall.
Nicht besonders praktisch ist dieses Shape in Form eines Sägeblatts. Wer hier den Tonarm zu weit außen aufsetzt, bezahlt das mit dem Diamanten seines Abtastsystems
Begonnen hatte Bastine sein Schallplattenhobby mit ganz normalem Vinyl – zuerst Singles, dann aber ganz schnell LPs: Rock, Pop, Folk und Funk. Was er nicht gekauft hat – wen wundert’s – waren Marsch- und Volksmusik sowie Schlager, „Discomusik auch nicht“. Die Umstellung auf CDs in den 1990er Jahren hat er natürlich nicht mitgemacht und ist bei Vinyl geblieben.
Unter den Sammlern von Picture Discs hat Peter Bastine einen bekannten Namen. Seine Schätze sind auf Ausstellungen in ganz Europa zu sehen. Für seine Lieblingsmusik muss er allerdings schwarzes Vinyl auflegen – Jazz und Jazzrock findet man auf Bildschallplatten nur selten.
Peter Bastine, Jahrgang 1952, war Discjockey, betrieb einen Plattenladen und arbeitete bei einer Künstleragentur als Roadie für AC/DC, Pink Floyd und Frank Zappa
Anfang der 1980er Jahre erfuhr der Hamburger, dass es Bildschallplatten vor der Vinylzeit mit 78 Umdrehungen gibt. Da er schon immer bestrebt war, ein bestimmtes Gebiet zu komplettieren, beschloss er, sich beim Sammeln auf dieses überschaubare Feld der Picture Records zu konzentrieren.
Eines der gängigsten Labels für Picture Records ist die amerikanische Firma Vogue. Die 78er mit 25 Zentimeter Durchmesser entstanden 1946/47 in Detroit. Sie bestehen nicht aus Schellack, sondern haben einen Aluminiumkern mit beidseitig aufgeklebten Papierbildern, der in durchsichtigem Vinyl eingefasst ist
Und wie kam Bastine an solche Raritäten heran? – Alles lief damals schriftlich über Kleinanzeigen im Oldie Markt und im US-Sammlermagazin Goldmine – ein dickes Heft voller Kleinanzeigen, in dem jeder Inserent seine Verkaufsliste selbst tippen musste. „Ich hatte immer zwei Tage voll zu tun, um alles durchzugehen“, erinnert er sich. „Meine Bestellungen habe ich dann nach Amerika geschickt, mir hier Dollars besorgt und in bar bezahlt. Das war gar nicht anders möglich, ganz kompliziert.“
Früher habe er seine Listen mit der Schreibmaschine erstellt, davor noch von Hand. „Das geht heute wunderbar mit Excel-Tabellen. Der einzige Grund, weshalb ich gelernt habe, mit dem Computer umzugehen.“
„Das gibt’s gar nicht“
Zweites Spezialgebiet von Peter Bastine sind abspielbare Postkarten. Beliebt waren diese als klingende Grüße aus dem Urlaub oder als Werbeschallplatten mit 33 oder 45 U/min, die kostenlos verteilt wurden. Die meisten Schallplattenfreunde wissen heute kaum noch, dass es sowas mal gab.
Schallfolie „Elvis Presley speaks“ mit der intimen Beichte des „King“, dass er keine feste Freundin hat: Dieses Tondokument von 1956 konnten Verehrerinnen aus der Titelseite einer Teenager-Zeitschrift ausschneiden und auf den Plattenteller mit 78 Umdrehungen legen. Abspielen lässt sich die mit den Jahren wellig gewordene Folie heute nur noch eingeschränkt
Bastines Interesse gilt aber nicht diesen Karten aus den 1950er und frühen 1960er Jahren, sondern spielbaren Postkarten mit Normalrillen und 78 Umdrehungen pro Minute aus Vorkriegszeit. Diese sind noch viel seltener als Picture Records.
„Zweimal im Jahr findet für diese Schallpostkarten eine Verkaufsveranstaltung statt“, berichtet der Bildplatten-Sammler. „Ich könnte der Sohn der Herrschaften sein, die dort anwesend sind.“ Einige der alten Herren hätten schon zu ihm gesagt: „Junger Mann, was Sie da suchen, das gibt’s gar nicht. Ich sammle seit 50 Jahren Postkarten, aber welche zum Abspielen mit 78 Touren habe ich noch nie gesehen.“ Zum Beweis zeigt Bastine den „Herrschaften“ dann den Ordner mit den doppelten Exemplaren aus seinem Bestand.
„Ich habe immer alles, was ich an Geld hatte, in die Schallplatten gesteckt – in die normalen schwarzen genauso wie in die Picture Discs“
Am Grab von Buddy Holly
„Schon als Kind nahm sich Heinz-Günther Hartig vor, irgendwann am Grab von Buddy Holly zu stehen“, schreibt Jürgen Schmich im Vorspann zum nächsten Sammlerportrait. Inzwischen hat der in Oldenburg lebende Plattensammler die ehemalige Band von Buddy Holly kennen gelernt, den Produzenten und Manager von Holly in New Mexico besucht, mit Hollys Witwe zu Abend gegessen und bei einer Gedenkveranstaltung zu Ehren des Künstlers eine Rede gehalten. Für ein Musical über das Leben des Gitarristen und Sängers, der 1959 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, wurde Hartig als Berater engagiert.
Schwerpunkt der Riesensammlung von Heinz-Günther Hartig sind 45er Singles und Extended Plays. Auf diesen Vinylformaten hat sich der Rock ’n‘ Roll hauptsächlich abgespielt
In Hartigs Plattenregalen findet sich aber nicht nur eine umfangreiche Sammlung von Buddy Holly, sondern das ganze Spektrum des Rock ’n‘ Roll und Vieles aus der ersten Hälfte der 1960er Jahre. Neben den mehr als 30000 Tonträgern – 18000 Singles, 9000 LPs, 1000 Schellacks und 2000 CDs – besitzt der 1951 Geborene eine Sammlung von Alltagsgegenständen jener Zeit.
Hartigs Kollektion ist ein Musterbeispiel, wie man auch mit den finanziellen Mitteln eines Normalverdieners Superraritäten an Land ziehen kann – wenn man die entsprechende Energie aufbringt. Viele seiner Schätze fand der gelernte Buchdrucker auf Flohmärkten – und machte die Erfahrung, dass man für die Wühlarbeit früh aufstehen muss: „Über längere Zeit bin dazu nach Münster oder Osnabrück gefahren. Nachts um zwei Uhr los, damit ich um fünf, wenn aufgebaut wurde, schon dort war. Ohne eine Platte habe ich nie einen dieser Märkte verlassen.“
Jeder eingefleischte Rock ‚n‘ Roll-Sammler kennt den Longplayer mit dem simplen Titel Johnny Burnette and the Rock ‚n‘ Roll Trio – und reiht ihn unter die fünf besten Produktionen seines Genres ein. Herausgekommen ist die heute megarare 30-cm-LP mit den 12 explosiven Tracks 1957 auf den US-Label Coral. Noch gesuchter ist die englische, auf Vogue Coral erschienene Ausgabe mit der Bestellnummer LVC 10041, da im begehrten „10 inch“-Format. Die 25-cm-LP taucht praktisch nie auf Plattenbörsen auf.
„Nachmittags war im Lokal der Teufel los.“ Auf einer Plattenauktion 1978 in Wien wurde genau diese Klein-LP versteigert. Einer, der besonders lang gespart hatte, blieb gleich vorn beim Auktionator und hob bei fast jeder Platte die Hand. Als der die Johnny Burnette Ten Inch hochzeigte, wurde es ganz still im Saal. Ausrufungspreis 3500 Schilling! Wer ist interessiert? Eine einzige Hand erhob sich. Unter tosendem Beifall übernahm der Gewinner seine Platte und setzte sich wieder hin, als ob nichts gewesen war
Eine noch größere Rarität dieser Aufnahmen sind die drei deutschen EPs von Johnny Burnette, die aus der Langspielplatte ausgekoppelt wurden. Zwei davon hatte der Oldenburger über Plattenhändler für einen hohen Preis bekommen. Die dritte fand er schließlich an einem Flohmarktstand, wo ihm der Betreiber beiläufig erzählte, er habe neben seinen 78ern noch eine Kiste mit Singles.
Wer auf einem Flohmarkt eine bestimmte 45er sucht braucht Hartnäckigkeit und viel Geduld …
Da war dann diese EP mit dabei – die der Mann aber auf keinen Fall hergeben wollte. Am Ende sollte Hartig für einige Schelllacks und Singles 50 Euro bezahlen und fragte nochmals nach der unglaublich seltenen Extended Play. Da nahm der Händler sie in die Hand, schaute sich das Cover an und meinte: „Ach weißte was, die kriegste so dazu.“
Liebhaber der populären Musik der 1950er und frühen 1960er Jahre kennen Heinz-Günther Hartig auch als Herausgeber des Rock ’n‘ Roll Musikmagazins. Nach den dilettantischen Anfängen des Magazingründers war es ihm gelungen, das Periodikum zusammen mit Redaktionskollegen und einem talentierten Titelgestalter zu einer anerkannten Fachpublikation zu entwickeln – die in ihrem Erscheinungsbild allerdings stets einer Schülerzeitschrift glich. Erst nach 44 Jahren und 250 Ausgaben stellte das Magazin 2021 sein Erscheinen ein.
In der letzten Nummer ließen die Macher ihre ehrenamtliche Mitarbeit nochmal Revue passieren. Peter Stöbich verabschiedete sich sogar in liebevollen Reimen von den langjährigen Lesern:
„Die letzte Zeile ist geschrieben, ein wenig Wehmut schwingt schon mit. Wo sind die Jahre nur geblieben? Rasch eilt die Zeit – wir eilen mit.“
Trotz seiner großen Vinylsammlung hatte sich Hartig, dem Mainstream der Abonnenten folgend, in seinem Magazin jahrelang von der Schallplatte verabschiedet. Unter seiner Regie wurden dort hunderte, wenn nicht tausende von CDs rezensiert, darunter viele zweifelhafter Herkunft, deren Sammlerwert gleich Null ist und die inzwischen nur noch für den „gelben Sack“ taugen. Und wenn in den späten 1990er und den nuller Jahren auch keine neuen Schallplatten mehr erschienen sind, so hätten er und seine Mitstreiter durchaus Spielraum gehabt, sich mit den vorhandenen schwarzen Scheiben in den Archiven mehr zu beschäftigen.
Westmusik der Beatles
Ein Plattensammler aus den neuen Bundesländern, der lange Jahre unter der Ächtung westlicher Rock- und Popmusik durch die sozialistische Staatsmacht leiden musste, ist der im sächsischen Glauchau lebende Edmund Thielow. Er wurde in der „Ostzone“ – so der damals in Westdeutschland für das Arbeiter- und Bauernparadies gebräuchliche Begriff – von Beatlemania angesteckt und nicht mehr losgelassen. Thielow kann viel davon erzählen, wie er sich zu DDR-Zeiten trotz aller Widrigkeiten die begehrte Westmusik der Beatles und anderer Bands besorgte.
Edmund Thiele war „East German Correspondent“ für eine amerikanische Beatles-Zeitung, hielt für sozialistische Brigaden Vorträge über die Liverpool Four und organisierte Fantreffen
Aufgewachsen ist der 1955 Geborene in Greifswald im Nordosten von Mecklenburg-Vorpommern. Die Universitätsstadt lag im so genannten „Tal der Ahnungslosen“, in dem man weder UKW-Radio noch Fernsehen aus der Bundesrepublik empfangen konnte. „Es gab zwar einen dänischen und einen schwedischen Sender, die aber nur bei katastrophalem Wetter und Nebel durchkamen.“ Der Beatles-Fan hörte hauptsächlich einen Propaganda-Sender der DDR, in dem Westmusik lief.
Songtexte schrieben Thielow und seine Freunde von Tonbandaufnahmen nach Gehör mit: „Immer zu Zweit, abwechselnd jeder eine Zeile, da so schnell gesungen wurde. Später haben wir gemerkt, dass wir einiges falsch verstanden hatten – aber es klang zumindest richtig.“
Auch gemeinsame Plattenabende habe man veranstaltet. Wenn jemand eine neue Westscheibe besaß, habe man sich getroffen, die Musik angehört und anschließend darüber diskutiert. „Wir haben uns mit diesen Schallplatten richtig beschäftigt.“
1965 – zwei Jahre nach Beginn des Beatles-Fiebers – verlangte Staatsratsvorsitzender Walter Ulbricht, „mit der Monotonie des Je-Je-Je und wie das alles heißt“ Schluss zu machen.
„Die DDR ist ein sauberer Staat!“ Der Spitzbart kämpfte gegen jegliche westliche Kultureinflüsse Offizielles Parteibild
Auf dem 11. Plenum des Zentralkomitees der SED wurden sämtliche Gruppen aus dem kapitalistischen Ausland verboten.
Wartburg 311 aus der Ära des DDR-Regenten: Der Zweitakter wurde im Volksmund verächtlich „Ulbricht-Schaukel“ genannt – Bild: Vladimír Krupka
Das staatliche Plattenlabel Amiga musste seine in Ungnade gefallenen Produktionen fortan tarnen. Darunter die beiden Sampler „Big Beat I“ und „Big Beat II“, für die Sammler heute hohe Beträge hinblättern.
Mit Beat haben die Aufnahmen allerdings nichts zu tun. Unter dem Begriff verstand man damals im Osten Rock-Instrumentals der frühen 1960er Jahre von Gruppen wie Sputnicks, Butlers und Franke-Echo-Quintett.
Amiga-Sampler „Big Beat I“ des VEB Deutsche Schallplatten, erschienen im Februar 1965 in Ost-Berlin
Mit „Big Beat II“ folgte im August 1965 die zweite Ausgabe. Meine beiden Exemplare fand ich bei einem belgischen Plattenhändler
Zusammen mit der ultrararen Beatles-LP von Amiga waren sie die ersten und für längere Zeit auch die letzten Rock- beziehungsweise Beat-LPs im Arbeiter- und Bauernstaat – Dokumente eines nur kurze Zeit währenden politischen Tauwetters. Im Katalog des VEB Schallplatten tauchten die beiden Big-Beat-Sampler letztmals 1967 in der Rubrik „Jazz“ auf.
Tauschpartner in der ganzen Welt
Begonnen hatte Thielows Leidenschaft für die Liverpool Four etwa 1980. Auslöser war das Buch „5000 Beatles-Platten aus 50 Ländern der Welt“, das ihm ein Freund aus dem Westen sandte. Als ihm klar wurde, was es weltweit an Schallplatten von den Beatles gibt, beschloss er, sich beim Sammeln auf Paul, John, George und Ringo zu konzentrieren.
Der DDR-Sammler erfuhr, dass es von einer Beatles-LP unterschiedliche Cover und Labels gibt. „Auf solche Sachen hatte ich bisher nicht groß geachtet.“ Anhand des Kataloges konnte er nun gezielt nach Schallplatten suchen.
Thielow hatte in fast in jedem Land Partner, mit dem er Westplatten gegen Ostblockpressungen tauschte. Wegen seiner Aktivitäten wurde er „zur Klärung eines Sachverhalts“ sogar zur Staatssicherheit einbestellt, dann aber von den Schlapphüten nicht weiter behelligt. „Ich habe immer gesagt, wer die Beatles verbietet, verbietet auch Johann Sebastian Bach.“
1963 erschien diese Beatles-LP auf Vee-Jay Records aus Chicago. Die wenigen in den USA erschienenen Beat-LPs sind begehrt. Von diesem Longplayer existiert auch eine Raubpressung
Lizenzplatten aus dem Westen gab’s in der DDR nur unter dem Ladentisch. „Man musste den Mitarbeiter eines Plattenladens schon gut kennen, um von einer Lieferung zu erfahren, und hat ihm dafür ab und zu eine Flasche Schnaps rübergestellt. Gekauft wurde in jedem Fall, auch wenn es eine Scheibe von Roy Black war, da man die vielleicht als Tauschobjekt gegen eine noch fehlende Beatles-LP verwenden konnte.“
Bald war der Liebhaber auf seinem Sammelgebiet so versiert, dass er in der „Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse“ für die DDR-Brigaden Referate hielt. Die Betriebe mussten solche Veranstaltungen machen, um ihren Titel „Kollektiv der sozialistischen Arbeit“ zu bekommen. „Meist wollten die betrieblichen Arbeitsgruppen darin aber nichts über Lenin, sondern lieber etwas über die Beatles erfahren.“
In den Zeiten der Wende wurde Edmund Thielow wie viele Ost-Bürger arbeitslos. „So etwas kannten wir bisher nicht. Da war erst mal meine Familie das Wichtigste. Ich musste nicht mehr 20 Briefe schreiben, bis ich irgendwen kennen lernte, der mir eine bestimmte kanadische Beatles-Platte besorgte. Ich konnte einfach in einen Laden gehen und sie bestellen. Dann sagte der Verkäufer, dass die 40 DM kostet, und entweder konnte ich sie bezahlen oder nicht.
Ten-Inch-LP mit Aufnahmen der ganz frühen Beatles, von Tony Sheridan und seiner Begleitband, den Beat Brothers. Erschienen ist die seltene Klein-LP in Westdeutschland im Februar 1965
Später fuhr Thielow mit anderen Beatles-Fans regelmäßig an Ostern in die Niederlande auf eine Plattenbörse. „Man kriegt dort alles zu entsprechendem Preis, und 2000 Euro sind da mal schnell weg. Holland ist das Schlaraffenland für Sammler was Vinyl betrifft.“
Vorrangig sammelt der Glauchauer alles von den Beatles und was mit ihnen zusammenhängt. Also Soloveröffentlichungen, Platten anderer Musiker, auf denen einer der Beatles mitspielt, Coverversionen und auch Musik anderer Bands, wenn die mit den Liverpoolern etwas zu tun hat. Daneben viele DVDs und Erinnerungsstücke wie ein den Titel „Imagine“ spielender Teddybär. Schallplatten – siehe Eingangsfoto – machen bei ihm dadurch einen geringeren Anteil an der Gesamtkollektion als bei anderen Sammlern aus.
Die Frage von Jürgen Schmich, ob er vom Sammeln besessen sei, bejaht Thielow: „Mein Hobby ist fast schon ein Hang zur Krankhaftigkeit. Mir würde es schwer fallen, zu einem Tonträger nein zu sagen, wenn ich den noch nicht besitze. Die einzige Barriere ist wirklich das Geld. Zeitweise habe ich über die Stränge geschlagen, um es vorsichtig auszudrücken: Zu viel gekauft.“
Stones-Experte aus Zürich
„Regelmäßig zu runden Jahrestagen der Rolling-Stones-Geschichte“, so Jürgen Schmich, „tritt Felix Aeppli in Erscheinung: Er gibt Radio-Interviews, wenn eine Stones-Scheibe 30 wird oder Keith Richards seinen Geburtstag feiert. Und wenn sich das legendäre 1967er Konzert der Band im Züricher Hallenstadion zu einem bestimmten Datum jährt, veröffentlicht er einen Zeitungsbeitrag.“
Der 1949 geborene promovierte Historiker nennt sich „Stonologe“ und verdankt den Expertenstatus seinem mit wissenschaftlicher Akribie verfassten Werkkatalog der Band
Seine erste Stones-Scheibe kaufte der Schweizer kurz nach den frühen Veröffentlichungen der Band, um die Jahreswende 1963/64. „Das war eine französische EP mit vier Titeln. Ich hatte aber nicht das Geld, um mir mehr Schallplatten zu kaufen. Eine LP kostete 22 Franken, eine Single vier Franken und 75 Rappen, das war absolut jenseits.“
Folglich überspielte Aeppli die Songs von geliehenen Schallplatten auf ein von den Eltern geschenktes Bandgerät. Später fand er heraus, dass bei dem dafür benutzten Spieler ein Kanal nicht richtig funktionierte und auf den Bändern die Hälfte fehlte. „Da habe ich mir den ersten eigenen Plattenspieler gekauft, einen Lenco – eine super Marke damals. Und mit den Platten klang das ja völlig anders als von meinem Tonband.“
In der Beat-Ära Mitte der 1960er Jahre erschienen zahlreiche Fanzines, so auch dieses seltene USA-Magazin der Rolling Stones
Aeppli, der zur Zeit der Drucklegung des Buches von Jürgen Schmich als Lehrer an der Züricher Berufsschule für Erwachsenenbildung unterrichtete, hat eine besondere Beziehung zu England. „Ich war ’68 in den Ferien da. London war der ‚Place to be‘ – ein Schmelzpunkt für die Entwicklung in Mode, Grafik, Film und Musik.“
Seine Entscheidung, an der Züricher Universität Geschichte und Englisch zu studieren, hing ganz wesentlich mit seiner Begeisterung für die Rolling Stones und den Fußballclub Manchester United zusammen. Im Rahmen seines Studiums verbrachte er ein Jahr als „German Assistant Teacher“ an einem walisischen Gymnasium.
„Die Rolling Stones haben einen neuen Sound gebracht“, begründet Felix Aeppli sein Faible für die Gruppe. „Im Gegensatz zu den Beatles kamen sie von der schwarzen Musik, vom Rhythm & Blues. Das Erdig-Rockige war das Entscheidende – sie waren rotzig, gleichzeitig aber sehr witzig.“ – 1964, wie hier im Foto, wirkten die Stones allerdings noch wie eine brave Schülerband
Nach seiner Rückkehr aus Wales fing der Züricher mit dem Schallplattensammeln an. Dabei konzentrierte er sich auf LPs und versuchte zunächst, mit möglichst wenigen Alben das gesamte Repertoire der Rolling Stones abrufbar zu haben.
Gekauft hat Aeppli immer die englische und/oder amerikanische Ausgabe. Um schweizerische und deutsche Pressungen machte er damals einen Bogen. „Es war ein ewiger Streit, welche Pressung den besseren Klang aufweist. Heute würde ich aber sagen, dass die deutschen zum Teil die besten waren.“
Seine Sammelleidenschaft führt der Stonologe, der als Jugendlicher schon Bierdeckel, Zuckereinschlagpapier und Fußballbildchen hortete, auf seine Biografie zurück. Seine Eltern waren beide schwer krank und lebten getrennt, als Felix noch klein war. Er und sein Bruder wuchsen im Waisenhaus auf. Nach dem Tod des Vaters begann er, sich auf Beziehungen zu Dingen zu konzentrieren, „weil ich als Kind die Erfahrung machte, dass man mich einfach sitzen ließ“.
Diese Zehn-Zoll-LP hat Decca 1965 als Sonderauflage für einen deutschen Schallplattenclub produziert. Einer der Raritäten in meiner Merseybeat-Abteilung
Eine neue Dimension des Plattensammelns erschloss sich Aeppli, als Mitte der 1970er Jahre von den Rolling Stones die ersten Raubpressungen auftauchten. Diese Bootlegs, die teils unter den Ladentischen gehandelt wurden, besaßen für ihn den Reiz des Illegalen. „Das war wieder spannend, während mir die Stones nach ’72 nicht mehr so gut gefielen.“
Wie andere Plattensüchtige strebt der Schweizer nach Erstpressungen: „Ein 1970er Reissue vom 1964er Original – das geht gar nicht.“ Unterschiedliche Variationen eines Plattencovers, die anderen Sammlern enorm wichtig sind, bedeuten ihm dagegen kaum etwas: „Das ist bloß Karton, das interessiert mich nicht.“
An Schallplattenauktionen nimmt der Stones-Sammler nicht teil – „das war irgendwann eine Grundsatzentscheidung“. Die Raritäten seiner Kollektion hat er in Plattengeschäften im Ausland gefunden, vor allem in New York. Auf Plattenbörsen findet der Züricher kaum noch Interessantes.
Durch das eingeschränkte Interessengebiet ist die Tonträgersammlung von Aeppli vergleichsweise überschaubar – etwa 3100 Stück. Davon rund 600 Singles, 1000 LPs, der Rest CDs und DVDs. Außerdem noch je 200 LPS und CDs von seinem zweiten Sammelgebiet Bob Dylan und einige hundert Vinylplatten weiterer Interpreten.
Erste USA-LP der Stones auf London Records von 1964. Hier die Mono-Pressung als „full frequency range recording“, kurz „ffrr“
Der Wissenschaftler sieht sich als Perfektionist, der immer versucht, eine Systematik und eine gewisse Vollständigkeit in eine Sache reinzubringen. 1985 erschien die erste Ausgabe seines Werkkataloges „Heart of Stone: The Definitive Rolling Stones Discography 1962-1983“, die jedem ernsthaften Sammler als Bibel gilt.
„Es gab bereits eine Unmenge Musikbücher über die Stones, aber die meisten waren wahnsinnig oberflächlich, viele nur geschwätzige Biografien“, erklärt der Experte. Da wollte er als seriösen Gegenpunkt zeigen, wie man das besser macht.
Den Werkkatalog will Aeppli weiterführen, solange die Rolling Stones noch auf der Bühne stehen und neue Produktionen einspielen – was ihm bis heute Arbeit beschert: Erst kürzlich ist mit „Hackney Diamonds“ ein neues, viel gefeiertes Studioalbum der Band erschienen.
Herz und Schmerz aus Deutschland
„Manchmal“, so Jürgen Schmich, „fühlt sich Hans-Jürgen Finger von der Masse seiner Sammlung fast ein wenig erdrückt.“ Der 1965 Geborene, der in der Nähe von Stuttgart lebt, hat in seinem Leben bisher sage und schreibe 55000 Tonträger angehäuft. Was die Zahl seiner schwarzen Scheiben anbetrifft ist Finger unter den hier vorgestellten Plattensüchtigen der König.
Während sich der Verwaltungsangestellte anfangs auf den deutschen Schlager der 1950er und 1960er Jahre konzentrierte, gehört heute zu seinem Sammelgebiet auch Easy Listening und selbst klassische Musik
Finger verpasste kaum eine ZDF-Hitparade mit Dieter Thomas Heck und hat sich durch Radiohören viel Wissen über den deutschen Schlager angeeignet, der den Schwerpunkt seiner riesigen Sammlung bildet.
Nachdem sich sein Berufswunsch Rundfunkmoderator nicht verwirklichen ließ, wurde er als Programmmacher und Moderator für den Patientenrundfunk in zwei Krankenhäusern aktiv. Außerdem schreibt der Experte eine Internetkolumne über Schlager-Raritäten.
Spezialisiert hat sich Finger sich auf deutsche Schlager aus der Zeit von 1953, als die ersten Single-Schallplatten in den Handel kamen, bis zum Ende der 1960er Jahre. Diese Richtung macht in seinem Bestand etwa ein Drittel aus. Auch den rührenden Rock ’n‘ Roll-Versuchen in Deutschland gilt seine Sammelleidenschaft. „Diese Titel haben ihren eigenen Charme.“
Eine weitere Vorliebe hat der Schlagersammler für den amerikanischen Country-Sänger Jim Reeves, der 1964 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam. Wenn Reeves deutsch gesungen hätte, wären seine Songs im weitesten Sinn Schlager gewesen. „Das war dieser Nashville-Sound, der mit Chet Atkins und Floyd Cramer aufkam. Solche Aufnahmen habe ich nach und nach entdeckt, und die höre ich heute noch wahnsinnig gern.“
Damit verwandt ist Fingers Sammelgebiet Easy Listening. „Es gibt hier eine ganze Reihe traumhaft schöner Instrumentals von Orchestern wie Frank Pourcel, Paul Mauriat, Raymond Lefevre, Bert Kaempfert, James Last oder Manuel & His Music Of The Mountains. Darüber hinaus habe ich einiges an französischen Chansons zusammengetragen.“ Und zwischen alldem eine – zumindest in meinen Augen – unverdauliche Mischung: Tonträger von Kiss, Lady Gaga und den Kastelruther Spatzen.
Deutsch gesungenen Beat, der nach 1963 aufkam, habe er allerdings nie gemocht. Ebenso wenig Titel aus der zweiten Hälfte der 1960er. „Da gab es viele dümmliche Mitklatschnummern und totgenudelten Seelenschmalz von Roy Black.“ Dabei habe Gerhard Höllerich auch sehr hörenswerte Aufnahmen gemacht.
Auf die Frage von Jürgen Schmich, warum er gerade die heile Schlagerwelt favorisiert, antwortet sein Interviewpartner selbstbewusst mit einer Gegenfrage: „Warum soll man sich nicht für drei Minuten irgendwo hin flüchten dürfen? Man hat im wirklichen Leben schon genug, das einen belastet.“
„Das Interesse an Schlagern der 1950er und 1960er Jahre ist heute nur noch gering“, gibt Hans-Jürgen Finger zu. Auch im Rundfunk sind sie kaum noch zu hören. In den 1970er Jahren arbeitete sich Polydor mit dieser Serie Jahr für Jahr posthum am deutschen Schlager ab. Aus rechtlichen Gründen waren leider nicht sämtliche Titel Originalaufnahmen
Das erste, was Hans-Jürgen Finger als Kind fehlerfrei bedienen konnte, war der häusliche Plattenspieler. „Mein Vater besaß rund 500 Schallplatten, die ich übernommen habe. Das waren Tagesschlager der 1950er und 1960er Jahre. Die Musik dieser Zeit stand bei mir immer im Fokus.“
Mit dem ersten selbst verdienten Geld fingen auch bei Finger die Schallplattenkäufe an. Schon früh entwickelte er einen Hang, „Sachen zu kriegen, die im normalen Handel nicht mehr erhältlich waren“.
Wie für Peter Bastine war auch für den Schlagerfan die Auktionsplattform Oldie-Markt eine wichtige Beschaffungsquelle, allerdings mit völlig anderer Suchrichtung: „Drei Viertel des Angebots waren internationale Sachen, an denen ich kein Interesse hatte. Erst gegen Ende der Ausgaben kamen die Schallplatten mit deutschen Interpreten.“
Über den Oldie-Markt fand Finger einen gleichgesinnten Sammler, dem er in den Folgejahren Tausende der schwarzen Scheíben abkaufte. „Früher oder später wird man da zu einem Suchtkäufer“, bekennt er. „Es ist ein Fass ohne Boden.“ Über Kosten dürfe man als Liebhaber niemals nachdenken. Monatlich gebe er 300 bis 400 Euro für neue Tonträger aus.
Hier betrachtet der Schlagerfan eines der typischen Plattenalben mit Kunststoffüberzug im Stil der 1950er Jahre. In diese Alben wurden die 45er Kleinplatten mit oder ohne Papierhülle (Singles) beziehungsweise Cover (EPs) eingesteckt
Auf guten Zustand seiner Schallplatten legt der Rundfunkmoderator im Krankenhaus großen Wert. Nach seinem Verständnis müsse eine Platte sendefähig sein. „Wenn sie mal kurz knackt, ist das kein Thema. Wenn sie jedoch verzerrt, weil sie mit einer defekten Nadel abgespielt wurde, geht das gar nicht.“ Deshalb meide er Flohmärkte, da man die Angebote dort nur optisch bewerten kann.
Es gebe allerdings Platten, die in brauchbaren Zustand nirgends aufzutreiben seien. So die Single eines Studiochors aus der Sammlung seine Vaters, „auf der sich noch die Abdrücke meiner Milchzähne befinden“. Freiwillig würde er die nicht mehr auflegen.
Gegenüber der Compact Disc hat der Schlagerfachmann keine Beißhemmung – im Gegenteil: Er betrachtet die Silberlinge als sinnvolle Ergänzung seiner Sammlung. Allerdings böten Schallplatten ein anderes emotionales Erlebnis. „Man hat ein Cover in Hand, ein schönes Foto, und bei älteren Exemplaren auch ein gewisses Gewicht. Es ist ein kleines Ritual, sie aufzulegen.“
Bärenfamilie aus Bremen
Das einzige Schallplattenlabel, das sich ab Ende der 1970er Jahre auf erstklassige Reissues deutscher Schlager spezialisiert hat, ist Bear Family Records mit Sitz auf einem alten Bauernhof in der Nähe der Hansestadt.
Peter Kraus war einer der populärsten deutschsprachigen Rock ’n‘ Roll-Sänger, erschien aber gegenüber dem rebellischen „deutschen Elvis“ Ted Herold artig und weichgespült. Sein schlaksiges, lässiges Auftreten kam bei Halbstarken dennoch gut an. Hier die erste von mehreren Kraus-LPs, die bei Bear Family veröffentlicht wurden
Ursprünglich als Label für Folk und Country gegründet, ergänzten bald Rockabilly, Rock ’n‘ Roll, Rhythm & Blues und weitere Richtungen das Sortiment der Bremer. Allerdings habe Bear Family nach Urteil von Hans Jürgen Finger den deutschen Sektor dann wieder vernachlässigt.
Viele LPs und CDs der Firma entsprächen dem ausgefallenen Musikgeschmack von Firmeninhaber Richard Weize – der das Schaffen fast vergessener Künstler manchmal bar jeder wirtschaftlicher Vernunft wiederveröffentlicht hat. „Aber im Grunde lass‘ ich auf Bear Family nichts kommen. Was die Leute dort gemacht haben, bekommt von mir durchweg eine Eins mit Stern.“
Eine deutsch gesungene Langspielplatte, die auch unter Rock ’n‘ Roll-Freunden besteht, ist diese Scheibe von Mike Roger auf dem winzigen Nürnberger Label „ABANORI“. Wegen des im Staccato durchlaufenden Rhythmus, der für den Modetanz Slop typisch ist, trug seine Begleitband den Namen „Machineguns“. Der „Närnbercher“, dessen heiserer, kehliger Sprechgesang an Fats Domino erinnert, forderte aus jeder Musikbox: Let’s slop
Ein wichtiges Hilfsmittel für den Schlagersammler beim Katalogisieren seiner Bestände ist der Computer. Alles, was er in Erfahrung bringen kann, haut er in die Tasten: Titel, Interpret, Komponist, Erscheinungsjahr, Laufzeit. Wenn der Titel aus einem Film oder einem Musical stammt, schreibt er das mit rein. Oder ob das Stück beim Grand Prix oder bei den deutschen Schlagerfestspielen dabei war, in welchem Jahr mit welcher Platzierung. „Und wenn es eine Schallplatte ist, die man zum Beispiel wegen ihres schlechten Zustands nicht senden kann, vermerke ich das genauso.“
Aufgrund seiner umfangreichen Datenbank kann Finger zum Bespiel schnell prüfen, ob sich der Kauf eines neu erschienenen Samplers lohnt oder die Titel sich schon in der Sammlung befinden. „Von daher ist dieses System eine feine Sache. Ist halt aufwändig ohne Ende.“
Meine Empfehlung: Kaufen!
Das Softcoverbuch von Jürgen Schmich ist inzwischen vergriffen, aber antiquarisch durch Googeln noch zu beschaffen – allerdings zu gesalzenen Preisen
Die Gebraucht-Preise für dieses gesuchte Werk bewegen sich inzwischen im hohen zweistelligen Euro-Bereich. Aktuell werden vier Bücher zu Preisen von zirka 65 bis 105 Euro angeboten. Ich kann mich von meinem ausgewerteten Exemplar für 30 Euro trennen. Wer daran Interesse hat schreibt mir ein Mail.
„Plattensüchtig ist ein Werk für Menschen, die selbst sammeln (oder horten) – aber auch für all jene, die dem Phänomen mit einer gewissen Fassungslosigkeit oder gar Unverständnis gegenüberstehen.“